Robert Kerber: Bibliothekar
Beitrag in der Oktober 2004 erschienenen Science Fiction-Anthologie "Walfred Goreng"

Matt lief die Beete mit den Kürbispflanzen ab, deren Stängel wie Schlangen über den Gehweg und in die Nachbarbeete krochen. Der starke Regenfall der letzten Tage hatte einigen Schaden im Garten angerichtet, aber die Kürbisse hatten den Wassermassen standgehalten und breiteten sich nun gierig nach allen Seiten aus. Die ersten Blüten hatten sich geöffnet und leuchteten wie kleine Sonnen, die Schwärme von Insekten wie verirrte Meteoriten anzogen.
   Er bückte sich nach einer Hummel, die einen endlosen Kreis auf einer Steinplatte beschrieb. Mühsam, mit zornig vibrierenden Flügeln, schleppte sie den dicken Körper vorwärts. Sie hatte zu viele Pollen angesammelt und war nicht mehr in der Lage, sich in die Luft zu erheben. Matt hatte schon einige ihrer Artgenossen auf diese Weise verenden sehen, vor allem zu Beginn des Sommers, wenn die noch unerfahrenen Junginsekten zu ihren ersten Erkundungen ausflogen.
   "Matt, du hast Besuch", rief eine Stimme aus dem Haus.
   "Ich komme, Mutter."

   Gromek erwartete ihn im Wohnzimmer. Er lehnte am Esstisch, die Hände in dem Mantel vergraben, den er bei jedem Wetter trug, und spielte mit seinem Schlüsselbund. Neben ihm auf dem Tisch stapelte sich ein Dutzend Bücher.
   "Zwölf Stück. Es sind ein paar dünne darunter, deshalb haben wir zwei mehr draufgelegt. Du hast bis Ende der Woche Zeit. Montag früh fragen wir dich ab."
   "Wer immer mich abfragt, Gromek, du wirst es nicht sein. Du bist und bleibst nur der Bote."
   "Genau wie du, mein Junge. Wenn auch auf andere Weise."
   "Ich bin nicht dein 'Junge'. Vielleicht verrätst du mir lieber, wie ich bis Montag zwölf Bücher durchlesen soll? Heute ist Donnerstag."
   "Zwanzig Bände pro Woche ist das normale Pensum in deinem Alter", grinste der Lieferant. Er klopfte auf den Stapel. "Geschichte der Neuzeit. Dein Fachgebiet, ist also bestimmt ein Klacks für dich. Wirst genug Zeit zwischendrin haben, nach deinem Garten zu sehen."
   "Es ist nie genug. In zehn Jahren werde ich nicht mehr wissen, was das Wort 'Garten' bedeutet."
   "Dann halt dich ran. Wir alle spielen auf Zeit, Junge."
   Er winkte ironisch und wünschte im Hinausgehen Matts Mutter, die in der Küche einkochte, einen schönen Tag.

   "Du solltest etwas mehr Respekt vor Herrn Gromek zeigen", hörte er Mutters Stimme.
   "Er ist ein kleiner Bücherbote. Ich bin für ihn nicht mehr als ein Freak. Eine Laune der Natur."
   Er hob den Stapel Bücher an und balancierte ihn vor seiner Brust. Seine Mutter kam ins Wohnzimmer gelaufen, eine marmeladenbeschmierte Schürze um den Bauch gebunden, und musterte ihn kritisch.
   "Ich wünschte, du würdest ernsthafter an die Sache herangehen, Matt. Immerhin geht es um deine Zukunft."
   "Zukunft? Wenn ich dreißig bin, wird man mich füttern, tagsüber auf einer Bank auf dem Anstaltsgelände parken und abends im Bett festschnallen. Wenn nicht etwas Außergewöhnliches passiert wie 'Matt scheißt grade seine Hosen voll' oder 'Matt kotzt sein Frühstück auf den Rasen'."
   "Du sollst nicht so reden!"
   "Verzeihung, Mutter. Ich muss lernen." Er schob sich an ihr vorbei und ging die Treppe hoch in sein Zimmer. Seine Mutter rief ihm nach.
   "Vergiss nie, wie gut es dir im Vergleich zu anderen geht. Du hast Freunde, die so sind wie du. Du hättest Nathalie nie kennen gelernt, wenn du nicht ein Bibliothekar wärst."

   Nathalie, oh ja. Nathalie mit dem kurzen, rot gelockten Haar und der blassen Haut, unter der die Venen durchschimmerten wie Blattadern. Sie wohnte in der Nachbarschaft und war Bibliothekarin wie er. Jeden Sonntagabend trafen sie sich und fragten sich gegenseitig ihren Lernstoff der vergangenen Woche ab. Die Prüfungen, denen man sie montagmorgens unterzog, waren streng.

(...)


 

"Walfred Goreng", der Fortsetzungsband zur Anthologie "Deus ex machina", enthält neue Kurzgeschichten von Thorsten Küper, Helmuth Mommers, Klaus Eylmann, Dieter Schmitt, Robert Kerber und vielen anderen. Herausgegeben von Armin Rößler und Dieter Schmitt.